Sinn und der Unsinn des Homo oeconomicus

Der gelernte und gewiefte Volkswirt Hans-Werner Sinn fühlte sich im Herbst letzten Jahres dazu berufen, für die derzeit immer heftiger kritisierte Volkswirtschaftslehre eine Lanze zu brechen. Sinn ist Präsident des viel zitierten ifo-Instituts in München, seine Äußerungen gehören hierzulande zu den meist beachteten. Doch sein Rettungsversuch in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 31. Oktober 2014 unter dem Titel „Der große Irrtum“ muss als gründlich misslungen gewertet werden.

Unter der Auswahl mehrerer volkswirtschaftlicher Kernbegriffe, über die er als Fachautorität die Öffentlichkeit aufklären wollte, befand sich auch der Homo oeconomicus, der meines Erachtens vollkommen zu Recht neuerdings (wieder) viel gescholten wird. Obwohl und gerade weil ich auch Sinns übrigen Belehrungen einiges zu entgegnen hätte, will ich mich im gegebenen Rahmen auf den Abschnitt des traditionellen Menschenbilds der ökonomischen Theorie, den Homo oeconomicus, beschränken. Sinn versucht die laut gewordene Kritik an dieser Kunstfigur wie folgt ad absurdum zu führen:

„Der Homo oeconomicus, der rational handelnde Egoist, den Volkswirte häufig bei ihren Analysen unterstellen, hat in letzter Zeit Kritik auf sich gezogen, weil er das wirkliche Verhalten der Menschen vielfach nicht gut abbildet. Experimente beweisen, dass die Prognosekraft dieser Kunstfigur begrenzt ist. Aber der Homo oeconomicus dient gar nicht der Prognostik, sondern soll helfen, Marktfehler von Denkfehlern der Menschen zu trennen. Dem Volkswirt geht es darum, kollektiver Irrationalität nachzuspüren, und das gelingt am besten, wenn man in volkswirtschaftlichen Modellen unterstellt, dass die einzelnen Individuen rational handeln. Dieser „methodologische Individualismus“ stellt sicher, dass Maßnahmen, die die Politik ergreift, niemals mit der Fehlbarkeit des Menschen und dessen Irrationalität erklärt werden, sondern immer nur mit Fehlern der Spielregeln, unter denen der Mensch agiert. Dies schützt davor, in einen diktatorischen Paternalismus abzugleiten.“

Was Sinn hier als stichhaltige Argumentation vorbringt, ist nicht mehr als eine Behauptung, die einer näheren Prüfung nicht standhält. Man sollte sich daher von seiner autoritär veranlagten Verteidigungsschrift nicht länger abschrecken lassen, auch weiterhin ernsthafte Erneuerungsversuche der wirtschaftswissenschaftlichen Disziplin einzufordern.

Hinter Sinns Statement findet sich die typische, auf den ersten Blick nicht leicht zu durchschauende Argumentation wieder, derer sich neoklassische Mainstream-Ökonomen zur Ehrenrettung ihrer analytischen Kunstfigur gerne bedienen. Dazu gehört – was selbstverständlich auch kein intelligenter Wissenschaftler, zu denen gewiss auch Sinn und seine neoklassischen Mitstreiter gehören – behaupten wird, dass der Mensch per se rational sei und ausnahmslos egoistisch handele. Das tut auch Hans Werner Sinn wohlwissentlich nicht. Stattdessen rechtfertigt er die Verwendung einer Kunstfigur namens Homo oeconomicus mit einer methodologischen Notwendigkeit. Ein Aspekt, der auf der Ebene der Wissenschaftstheorie liegt, auf der vor allem praxisorientierte Kritiker oft nicht zu Hause sind. So behalten die strengen Wächter des Elfenbeinturms stets die Deutungshoheit. Und im streng bewachten Elfenbeinturm sagen sich nur in Ausnahmefällen einzelne „Abtrünnige“ von jenem Paradigma los, unter welchem sie selbst wissenschaftliche Karriere gemacht haben. Bisher hat diese Immunisierungsstrategie der neoklassisch geprägten Schulökonomik immer ausgereicht. Doch wer sich nicht länger von dieser Vernebelungstaktik in die Irre führen lassen will, sollte sich die Mühe machen, das von Hans-Werner Sinn vorgebrachte Argument kurz unter die Lupe zu nehmen. Man wird schnell erkennen, dass es nicht stichhaltig ist.

Argument: Der Homo oeconomicus sei „eine Kunstfigur, die aber als Vergleichsmaßstab wichtig ist.“ Dem Volkswirt ginge es darum, kollektiver Irrationalität nachzuspüren, und das gelinge am besten, wenn man in volkswirtschaftlichen Modellen unterstellt, dass die einzelnen Individuen rational handeln. Hier unterliegt Sinn einem unglücklichen Irrtum und mit ihm die gesamte vorherrschende Schulökonomik. Ich kann dieses Argument nur wie folgt interpretieren: Wer die Qualität eines sozialen Systems bewerten will, braucht eine Möglichkeit, es gedanklich auf seine Funktionalität hin durchzuspielen und dazu braucht man ein Menschenbild. Dabei gilt: Je einfacher und eindeutiger die Verhaltensannahmen und Entscheidungsparameter, desto berechenbarer und deshalb desto besser. Und wenn es das erklärte Ziel ist, ein System zu errichten, das „kollektive Rationalität“ (gemeint ist: aus übergeordneter Sicht vernünftige Ergebnisse) hervorbringt, müsse man von der Rationalität jedes Einzelnen ausgehen, nach dem Motto: Was würde passieren, wenn sich zwar jeder egoistisch aber vernünftig verhielt.

Was ist von diesem Argument zu halten? Da das von Ökonomen untersuchte Wirtschaftssystem eines ist, das auf der Grundlage vorgefundener und eigens konstruierter Institutionen menschliches Verhalten mit all seinen Facetten und Schwächen in solche Bahnen lenken soll, die zu Wohl und Wohlstand in einer Gesellschaft führen, erscheint mir nichts selbstverständlicher, als ein Menschenbild zu verwenden, welches der wahren Natur, das heißt einer realistischen Motivlage, Schwächen wie Stärken, samt intrinsischer Handlungsmotivation und -restriktion sowie kognitiver Grenzen möglichst nahe kommt. Wie die Qualität und Konsistenz eines Systems beurteilt werden kann, wenn man hier vorsätzlich unrealistische Grundannahmen macht, bleibt das Geheimnis von Hans Werner Sinn und seinen Gesinnungsgenossen. Kurzum: Die Fehler eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems können nur dann eindeutig identifiziert werden, wenn die Annahmen über die Beschaffenheit seiner Elemente tatsächlich die Eigenschaften besitzen, die man ihnen theoretisch – zumindest als wesentliche – unterstellt. Hans-Werner Sinn scheinen bei seiner Argumentation zudem zwei Aspekte an entscheidender Stelle aus dem Blickfeld geraten zu sein.

Erstens ist der Homo oeconomicus nicht nur rational, sondern auch egoistisch. Seine Referenzrolle, die ihm Hans-Werner Sinn zuschreibt, beinhaltet also nicht nur Rationalität, sondern auch Egoismus. Während ersteres zwar als unrealistisch, aber wenigstens als erstrebenswert eingestuft werden kann, gilt für letzteres weder das eine noch das pauschal das andere.

Zweitens plädiert Sinn mit dem Argument der Referenzrolle automatisch für eine normative Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre: Man versucht nicht zu erklären, was, warum ist und wie es verändert werden kann – wie etwa in den Naturwissenschaften, die man sich ansonsten gerne zum Vorbild nimmt -, sondern untersucht, was mathematisch abstrakt möglich wäre, wenn alle rational (wenn auch egoistisch) wie ein Homo oeconomicus handelten. Das entspricht denn auch kluger dogmenhistorischer Einschätzungen des neoklassischen Paradigmas, wonach anders als noch der klassische Smithsche Ansatz das neoklassische Erkenntnisprogramm darin besteht, die Bedingungen zur optimalen Ressourcenallokation mathematisch herzuleiten. Für die Analyse soziologischer und psychologischer Realitäten, die man zur Realisierbarkeit von Politikempfehlungen bräuchte, hält man sich nicht zuständig und drückt sich damit vor dem wichtigen Kriterium der Anwendbarkeit einer Theorie und ihrer empirischen Relevanz. Man kann ex post immer sagen, hätte man dies oder jedes rechtzeitig und in ausreichendem Maße getan, wäre alles nicht passiert… Mit dem Ausbleiben einer umfassenden Anwendbarkeit einer Theorie muss schließlich jede Überprüfbarkeit scheitern. Auch dieses Immunisierungsmittel spielt der abgehobenen neoklassisch geprägten Schulökonomik in die Hände.

Die soziale Realität, zu denen insbesondere die wahre menschliche Natur und die Unberechenbarkeit der Zukunft zählen, wird einfach ausgeklammert. Wen wundert es da, wenn die schulökonomischen Lehrsätze uns wenig hilfreich bei echten Problemen sind. Es darf ebenso wenig verwundern, dass die so genannten Wirtschaftsweisen, anerkannte Experten aus den Kreisen der Hochschulökonomik, gegenüber der Politik jährlich in einem äußerst umfangreichen Gutachten am Ende nicht mehr zu bieten haben als die ewig selben Botschaften: Weniger Schulden, mehr Investitionen, weniger Steuern, mehr Bildung und so weiter und so fort.

Das alles ist nicht nur eine akademische Gedankenspielerei. Sie hat leider auch gesellschaftspolitische Auswirkungen. Die neoklassisch geprägte Schulökonomik ist ein Utopia. Ihre eingeschworenen Protagonisten bilden eine normative Glaubensgemeinschaft, deren Credo lautet: Ein gutes System braucht keine guten Menschen, es kann bei der Generierung von Wohlstand auf Moral und Menschlichkeit (notfalls) verzichten. Abgesehen davon, dass eine solche Gesellschaft keine wäre, in der man gerne leben möchte, ist diese Schlussfolgerung auch falsch. Sie übersieht – nicht zuletzt infolge des unrealistischen Menschenbilds – die tieferen Prinzipien menschlicher Gemeinschaften. Mehr und mehr setzt sich erfreulicherweise die Erkenntnis durch, dass der menschliche Humus aus gegenseitigem Vertrauen, moralischer Orientierung und intrinsischer Motivation unerlässlich für das Aufblühen von marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften ist. Das würde Hans-Werner Sinn vermutlich nicht einmal leugnen. Dennoch verkennt er, indem er den Homo oeconomicus als unverzichtbare Referenz verteidigt, dass eine Sozialtheorie mit dem Anspruch auf empirische Relevanz, den menschlichen Faktor nicht auf die Funktion einer emotionslosen und wertefreien Rechenmaschine reduzieren kann. Er drückt sich vielmehr vor entscheidenden Fragestellungen.

So könnte die – durch die Verwendung des Homo oeconomicus implizit eingeforderte – Rationalität unter realen Bedingungen ihren unterstellten Zweck gar nicht erfüllen. In den neoklassischen Modellen der Schulökonomik ist die Rationalität nur deshalb von so eindeutigem und unverzichtbarem Wert, weil dort der Faktor der Ungewissheit, der im realen Leben immer präsent ist, wegdefiniert wird. In den mikroökonomischen Modellen besitzt die Kunstfigur Homo oeconomicus alle entscheidungsrelevanten Informationen, die sie dann wie ein Automat in Hinblick auf gesetzte Ziele auswerten und in gewinn- oder nutzenmaximierende Handlungen umsetzen kann. Geht man hingegen von der realistischen Annahme aus, dass Menschen permanent unter Ungewissheit entscheiden, gemachte Prognosen ständig korrigiert werden müssen und die einflussreichsten Ereignisse solche sind, die kaum jemand für möglich gehalten hätte, so ergibt sich eine ganz andere Bewertung der menschlichen Natur, seiner Rationalität und des Zusammenlebens in wirtschaftenden Gemeinschaften. Dann erst geraten andere wichtige Eigenschaften des Menschen ins Blickfeld. Und dann fängt das gesamte Rationalitätskonzept der Neoklassik an zu bröckeln.

In der interdisziplinären Forschung gilt es längst als unbestrittene Tatsache, dass „kollektive Rationalität“ niemals allein aus rationalen und egoistischen Handlungen resultieren kann. Das war im Übrigen auch nicht die These von Adam Smith, auf dessen Theorem der „unsichtbaren Hand“ sich seine Nachfolger so gern berufen. Vielmehr resultiert Wohlstand vor allem aus der Bereitschaft und Fähigkeit zu kooperativem Verhalten, das sich in weiten Bereichen wiederum auf die verlässliche Einhaltung allgemein akzeptierter Regeln stützt. Für ein solches kooperatives Verhalten sind dann auch von der Neoklassik geradezu als irrational verpönte emotionale Eigenschaften von erheblicher Bedeutung. Sie schaffen unter anderem die vertraulichen Bindungen, die für stabile Kooperationen unerlässlich sind. Adam Smith, nicht nur Autor vom „Wohlstand der Nationen“, sondern auch von der „Theorie ethischer Gefühle“, hat das gewusst. Und einige moderne Ökonomen können und wollen die Bedeutung moralischer Gefühle und ethischer Aspekte für das Funktionieren einer Marktwirtschaft und der Erreichung von Wohlstand auch nicht länger leugnen.

Die überkommene Schulökonomik, die Hans-Werner Sinn hier noch verzweifelt zu verteidigen sucht und die in den meisten Hörsälen nach wie vor gebetsmühlenartig ihre alten Botschaften herunterleiert, hat hieraus allerdings bislang keine Lehren gezogen. Und das hat mittlerweile sogar soziale Auswirkungen, die weit über rein akademische Anliegen hinausgehen. Jenseits der wirtschaftstheoretischen Kritik am Homo oeconomicus und der untrennbar mit ihm verbundenen Gesetze seines Kosmos´ gibt es eine beunruhigende Nebenwirkung auf unsere Gesellschaft: Die Kunstfigur Homo oeconomicus gewinnt eine Vorbildfunktion für den realen Alltag. Das mag sich im ersten Moment etwas pathetisch und weit hergeholt anhören. Doch ich selbst erlebe regelmäßig, wie Studierende die Differenzen zwischen normativen und positiven Theorieannahmen häufig nicht angemessen verarbeiten können. Und bei der Komplexität der Thematik, die selbst einen gestandenen Volkswirt wie Hans-Werner Sinn zu theoretischen Kurzschlussreaktionen veranlasst, ist es Studentinnen und Studenten wohl kaum zu verübeln, wenn sie bei gegebenem Lehrprogramm es für eine der zentralen Botschaften ihres Studiums halten, dass in einer liberalen Marktwirtschaft alles legitim ist, was gesetzlich erlaubt oder nicht weiter verfolgt wird, und am Ende schon allein das System für die besten Endergebnisse sorgt. Eine solche Überzeugung tötet jede individuelle Verantwortlichkeit.

Mag vielleicht der jeweilige Dozent das noch angemessen differenzieren, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass er dies adäquat seinen Studenten mitzuteilen weiß, schon eher gering. Wenn man nun bedenkt, dass bereits seit Jahrzehnten die Wirtschaftswissenschaften zu den meist studierten Hochschulfächern gehören und viele Führungskräfte aus studierten Ökonomen rekrutiert werden, kann man sich ausmalen, welchen Einfluss der Homo oeconomicus, der ja als „Vergleichsmaßstab“ dienen soll, auf unsere gesellschaftliche Realität gewonnen hat. Wie hoch dieser Einfluss tatsächlich ist, wird man nicht ermitteln können. Und wie so oft in den Sozialwissenschaften besitzen qualitative Aussagen leider nicht die Überzeugungskraft wie knallharte Zahlen. Man wird daher diesen wichtigen Aspekt schnell vom Diskussionstisch wischen und als pure, vielleicht sogar verleumderische Spekulation abtun können. Wenn Hans-Werner Sinn in seinem Artikel triumphierend betont, der Homo oeconomicus diene gar nicht der Prognostik, so übersieht er dennoch, dass dieses Menschenbild letztendlich zur Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung geworden ist. Und das betrifft selbstverständlich leider nicht die Rationalität, sondern den Egoismus.

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